Originaltitel: VORTEX

F/Belgien/Monaco 2021, 142 min
FSK 12
Verleih: REM

Genre: Drama, Liebe

Darsteller: Dario Argento, Françoise Lebrun, Alex Lutz

Regie: Gaspar Noé

Kinostart: 28.04.22

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Vortex

Seht uns verschwinden – Noé malt in der zarten Farbe des Todes

Die Zeiten, einem Film von Gaspar Noé entgegenzufiebern, sind seit CLIMAX eigentlich passé. Aber wiederholen wir das: eigentlich. Denn wie Noé hier sein Skandalregisseur-Image unterwandert, was er ohne Drogenrausch, 3D-Sex oder zweckentfremdete Feuerlöscher inszeniert, dennoch rücksichtslos von der Leinwand auf den Sehnerv abfeuert, brennt sich da dauerhaft ein. Noé bleibt extrem, aber eben anders.

Allein die vorangestellte Widmung! „Für alle, deren Gehirn sich früher zersetzen wird als ihr Herz.“ Dazu singt Françoise Hardy berückend in „Mon ami la rose“ von einer befreundeten Rose, die morgens verging. Nun sehen wir ein altes Ehepaar im Bett liegen, langsam schiebt sich ein Strich zwischen die beiden Körper, eine visuelle Trennung, der Split Screen läßt zwei Leben parallel laufen. Und dieser Balken gewährt eine Rückblende auf das, was schleichend geschah, zeigt auseinandergerissene Menschen – sie ist dement. Er laboriert an Herzinsuffizienz und erlittenem Schlaganfall, hackt tapfer ein Sachbuch in die Schreibmaschine. Es analysiert Kino und Träume.

Noé bewilligt darüber allerhand verbale Ausschweifungen, hat für die Rolle einen kundigen Kollegen verpflichtet, Dario Argento nämlich, und jener Seitenwechsel hin vor die Kamera birgt einen spannenden Twist: Hat sich der Giallo-Meister bisher für das Innere seiner Figuren nur bis zur Psychose interessiert, legt er mit der wundervollen Françoise Lebrun ein komplexes Seelenpuzzle frei. Plaziert sich über seiner vom voranschreitenden Leiden zur Hülle degradierten Filmgattin, zurückgeworfen aufs Jetzt sowie Erinnerungen daran, wer sie einst war. Macht in verräterischen Dialogzeilen klar, daß der Graben verdammt tief gähnt: „Unser Leben – meins und ihres.“

In langen Plansequenzen schaut Noé einfach zu: Sie steht auf, pinkelt, kocht Kaffee. Verläßt das Haus, verläuft sich, Läden mutieren zu Labyrinthen, und wenn sie darin umherirrt, zunehmend ängstlicher, derweil er auf die geübte Suche geht, raubt es einem den Atem. Noé stilisiert den Mann nicht zum Pflegehelden, erzählt von Überforderung, erlaubt rausgebrüllten Frust, fast eine Anklage. Sie hält sich am Blumenstrauß fest, den er genervt kaufte, sackt zusammen. Eine ehemalige Ärztin. Eine immer noch liebende Ehefrau. Eine Mutter, deren Sohn sich bei jedem Besuch neu vorstellen muß.

Das bedrückt, es verfolgt nach dem abspannlosen Ende, schon seiner nüchternen Authentizität wegen, aufs Gemüt zielende Gefühligkeit hätte den Blick verklebt. Was Noé weiß und unnachgiebige Distanz wahrt; praktisch ein den doppelten Verfall strukturiert aufzeichnender Dokumentar. In guten wie in schlechten Zeiten? Sagte sich leicht, damals. Und trotzdem glaubt er auch (man nimmt’s höchst erstaunt wahr) an gewachsene, Entfremdung widerstehende Verbundenheit. Ringt selbst dem Schreckgespenst Tod eine seltsam tröstliche Farbe ab: Grün. Zartes Grün …

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...