Fast ist man erstaunt, Nouadhibou tatsächlich auf einer Landkarte zu finden. Denn in Abderrahmane Sissakos Film erscheint das mauretanische Küstenstädtchen als flirrender Tagtraum aus Meer und Wüste, den man vor lauter Wasser- oder Sandblindheit in Wahrheit nur vor dem inneren Auge sieht. In Mauretanien geboren und in Mali aufgewachsen, hat Sissako Nouadhibou einmal durchreist, auf dem Weg an die Moskauer Filmhochschule. Sein poetisches Filmporträt dieses Ortes ist dennoch keine Heimkehr. Es entsteht unter dem distanzierten Blick eines Fremdgewordenen.
Männer trinken Tee, archaische Ruhe herrscht. Nur, was nicht fest genug angewachsen ist, bewegt sich: ein vertrockneter Wüstenstrauch, ein Taxi, vor allem aber Menschen im Aufbruch. Abdallah, ein junger Mann aus Mali, macht vor der Weiterreise nach Europa Halt bei seiner Mutter. Die Sprache der Menschen hier versteht er so wenig wie ihre Traditionen - ein Fremdling in Turnschuhen, noch bevor er wirklich in der Fremde angekommen ist. Er lernt den kleinen Khatra kennen, der mit einem väterlichen Mentor unermüdlich elektrisches Licht in kargen, weißen Häusern installiert. Er begegnet einer jungen Frau, die aus Europa zurückkehrte, wo sie eine Liebe und ein Kind verlor. In der autobiographisch geprägten Figur des Abdallah konzentriert sich die Vielschichtigkeit von Sissakos Reflexion über den schwebenden Moment vor dem Weggehen. Auf dem Boden liegend, schaut er durch den Fernsehausschnitt eines kleinen Fensters auf das, was er verläßt: Füße in Sandalen, bunte Tücher, alte Gesänge. Die Vorahnung auf seine Zukunft wird im richtigen Fernsehen ausgestrahlt, eine französische Buchstabier-Quiz-Sendung.
Sissakos Gestus ist nicht der des Erzählens, sondern der des Schauens. Worte, Handlung, Dynamik, Informationen über Zusammenhänge und Details - all das tritt hier hinter Bilder zurück, die man sich mit etwas Geduld erschließen muß. Dann ist zu sehen, wie raffiniert sie komponiert sind. Denn in ihnen entfaltet sich nicht nur die staubig-schöne Melancholie dieses Übergangsortes, sondern auch Witz: die Lächerlichkeit von Glühbirnen in der Wüste, das Verwirrende und Verschlingende afrikanisch-bunter Stoffmuster.
Originaltitel: HEREMAKONO
Mauretanien 2002, 96 min
Verleih: Kairos
Genre: Drama, Poesie
Darsteller: Khatra Ould Abdel Kader, Maata Ould Mohamed Abeid, Mohamed Mahmoud Ould Mohamed
Stab:
Regie: Abderrahmane Sissako
Drehbuch: Abderrahmane Sissako
Kinostart: 14.10.04
[ Sylvia Görke ]