Philippe Lioret – ich gebe zu, er hat mich mit diesem Film überrascht. Nach MADEMOISELLE und DIE FRAU DES LEUCHTTURMWÄRTERS hatte ich ihn schon voreilig abgestempelt – als Regisseur von Sandrine-Bonnaire-Romanzen. Nichts gegen Sandrine Bonnaire. Im Gegenteil, es ist schade, daß man sie so sehr auf die Rolle der Sanftmütigen festlegen will und in Schmonzetten wie DIE SCHACHSPIELERIN verheizt. Doch das nebenbei. Wir sind bei WELCOME und Philippe Lioret. Künftig soll er in einem Atemzug mit seinen britischen Kollegen Ken Loach und Michael Winterbottom genannt werden.
Großbritannien ist das Stichwort, das Ziel des 17jährigen Kurden Bilal aus dem Irak. Er hat schon einen langen Weg hinter sich. Doch in Calais ist Endstation. Obwohl täglich Tausende von Menschen den Ärmelkanal passieren, geht es für Bilal nicht weiter. Auch ein Versuch, mit Schleppern, unter klaustrophobischen Umständen in einem LKW versteckt, über die Grenze zu kommen, scheitert. Bilal wird wieder auf die Straße gesetzt, einer unter vielen obdachlosen Illegalen, die rüber wollen und notdürftig von NGOs versorgt werden. Und so sieht er nur noch einen Weg: schwimmen.
Das Schwimmbad wird von nun an zur inneren Grenze, zwischen Traum und Wirklichkeit, aber auch zum Anknüpfpunkt zwischen zwei Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund. Beim Trainieren lernt Bilal den Schwimmlehrer Simon kennen. Ein trauriger Ex-Champion, der die bevorstehende Scheidung von seiner Frau nicht verkraftet. Vincent Lindon spielt diesen einsilbigen Brummbären so, daß es nur noch einen schmalen Grat zwischen Unbeherrschtheit und Zärtlichkeit gibt. Er nimmt sich des Jungen an, eigentlich, um seine Frau kurz vor der Abgabe des Eherings doch noch zu beeindrucken. Es sind die Umstände, die daraus schließlich eine Art Vater-Sohn-Geschichte machen. Was die beiden verbindet, ist nicht nur Sympathie; Simon wird auch als Staatsbürger erschüttert, bis er seine eigene Existenz für Bilal riskiert. Doch schützen kann er ihn nicht. Bilal setzt alles auf eine Karte, um sein Ziel zu erreichen.
Das Flüchtlingsthema legt einen Vergleich mit Witterbottoms IN THIS WORLD nahe. Der hatte den langen steinigen Weg zweier afghanischer Cousins Richtung England halb-dokumentarisch vermessen. Lioret konzentriert sich dagegen auf einen Platz, die letzte Station. Fast schon England. Das andere Ufer zum Rüberspucken nahe. Er hat gut recherchiert und an Originalorten gedreht. Er hat die Atmosphäre in Calais, Frankreichs mexikanischer Grenze, wie er es nennt, mit dem riesigen, fast marsianischen Hafengebiet, mit den diversen zynischen Unterdrückungsmechanismen, Blitzverurteilungen und Kontrollen von LKW mit CO2-Detektoren, so gut eingefangen, daß es Streit mit den Stadtobersten gab. Die Brisanz ist, daß es mitten in Europa liegt, nicht in Afghanistan, noch nicht mal auf Lampedusa. Daß hier vor der eigenen Haustür gekehrt werden soll, macht auch der Titel explizit. WELCOME ist das Wort, das auf der Fußmatte von Simons Nachbarn geschrieben steht; derselbe Nachbar, der ihm die Polizei auf den Hals hetzt.
Und doch, so brisant das Thema, der dramaturgische Coup ist dessen Verknüpfung mit einem romantischen Motiv. Bilal hat den langen Weg zurückgelegt für ein Mädchen, das mit seinen Eltern emigriert ist. Das baut wirksam die emotionale Brücke zu Simon, aber auch zum Publikum. Zwei Liebesgeschichten also, die sich vielschichtig kreuzen: eine in Freiheit gescheiterte, die dennoch tiefe Narben hinterlassen hat, und eine von Unfreiheit bedrohte. Denn um den Druck auf Bilal zu erhöhen, steht seiner Freundin in London eine Zwangshochzeit bevor. Auch hier schlägt Lioret wieder deutliche Töne an, vermeidet es aber, seine Figuren – insbesondere Simon – bis ins Letzte auszuleuchten, sondern behält einen mündigen Zuschauer vor Augen.
WELCOME versteht es, politisch motivierten Realismus mit echtem Kinozauber zu verbinden, einschließlich einer zauberhaft traurigen Filmmusik, die einem Stunden später noch im Kopf herumspukt. Ein wichtiger und ein sehr schöner Film.
Originaltitel: WELCOME
F 2009, 115 min
FSK 6
Verleih: Arsenal
Genre: Drama, Liebe, Polit
Darsteller: Vincent Lindon, Firat Ayverdi, Audrey Dana
Regie: Philippe Lioret
Kinostart: 04.02.10
[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...