Warum waren Ärzte unverzichtbar für die grausame Umsetzung der Nazi-Ideologie, und wie konnten sie sich dazu hinreißen lassen, so massiv gegen die medizinische Ethik zu verstoßen, ihre Heilaufgabe einzutauschen gegen die Aufgabe zu quälen und zu töten?
In den 70er Jahren beschäftigte sich der amerikanische Psychiater Robert Jay Lifton mit diesen Fragen, und wenn er sich jetzt vor der Kamera daran erinnert, an die strategisch nicht ganz leichten Interviews mit Ärzten, die im Konzentrationslager Experimente an Menschen ausführten oder den Gashahn aufdrehten, an die Verteidigungsstrategien, die sich diese Ärzte nach dem Krieg zurecht gelegt hatten, und die Tatsache, daß sie oft ihre Karrieren fortführen konnten, dann steht ihm das Erstaunen noch immer ins Gesicht geschrieben.
Dieses Gesicht werden wir 90 Minuten lang aufmerksam beobachten, denn der Dokumentarfilm hat seine Mittel so sehr reduziert, daß man ihn auch schlichtweg als Ein-Personen-Interview bezeichnen kann. Mehrere Tage hat das Interview in Liftons idyllisch gelegenem Haus gedauert. Und Hannes Karnick und Wolgang Richter haben beschlossen, daß das Interview-Material, die wissenschaftliche Erzählung und die ohne Frage charismatische Figur des Psychiaters ausreichen. Oder anders gesagt, daß es uns mehr erzählt, als die bis zum Überdruß im Fernsehen abgespielten und gedeuteten Archivbilder. Das mag sein.
Aber reicht es auch aus für einen Kinofilm? Leider nein, zumindest ist kein Grund erkennbar, warum man sich das Interview auf der großen Leinwand anschauen müßte, es sei denn, man sucht das Kino als Ort der Konzentration und Gemeinschaft. Wie sich Gutes und Böses in der Gemeinschaft und letztendlich in jedem von uns überlagern, dieser Gedanke rückt übrigens zum Ende des Filmes in den Vordergrund. Das Thema existiert auch ohne die Nazis. Auf die grundlegende Gefahr, die im Geist des Menschen verankert ist, die Fähigkeit, sich aufzuspalten in verschiedene, sogar widersprüchliche Persönlichkeiten, reagiert Lifton dennoch mit Hoffnung und Humor. Es muß sich nicht zwangsläufig das Böse durchsetzen.
D 2009, 90 min
Verleih: W-Film
Genre: Dokumentation
Regie: Hannes Karnick, Wolfgang Richter
Kinostart: 06.05.10
[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...