War Ödipus nun verrückt oder seine Mutter einfach nur sehr attraktiv? Das ist so eine grundsätzliche Frage, die hier mal eben en passant verhandelt wird. Auch wenn Michels Fall etwas anders gerichtet ist als in der antiken Vorlage, bleibt doch Ödipus (wahlweise aber auch Jesus Christus) die mythologische Bezugsfigur zum auf ganzer Linie verhinderten Protagonisten.
36 Jahre alt, arbeitet er halbtags in einem Elektrofachgeschäft irgendwo in der Provinz, versucht es ansonsten – wenig engagiert und noch weniger gekonnt – mit einer Schauspielkarriere und ist mit einer sexhungrigen Künstlerin liiert, aber auch das ohne rechte Anteilnahme. Eigentlich dreht sich in seinem Leben alles um seine süße kleine Mutter, die ihn noch heute „Kätzchen“ nennt, obwohl der überaus behaarte Sohn eher einem apathischen Bären gleicht, und ihn gern daran erinnert, wie lange sie ihn mit Muttermilch genährt hat, damit ihm keine Vitamine entgehen.
Sie hat ihn also nie ins Leben entlassen. Doch das übernimmt nun eine Krebserkrankung für sie. Sekt schlürfend und unfähig, ihre unzähligen Katzen zu versorgen, bindet die Mutter den Sohn aber vorerst noch fester an sich. So fest, daß er langsam selbst Krebssymptome bei sich entdeckt – und zwar an der Brust. Was für wunderbar skurrile Szenen und Bilder Xavier Seron diesem Grundkonflikt abgewinnt, läßt sich zu Beginn des Filmes noch kaum erahnen: zum Beispiel vier Männer, die sich in einem Umkleideraum sehr ernsthaft gegenseitig die Brust abtasten.
Überhaupt versteht er es, die Szenen gegen die Erwartung aufzulösen und die Geschichte zwischen Understatement und überzogenem Pathos oszillieren zu lassen. Hinzu kommt ein Schuß schwarzer Humor, wie ihn nur Belgier herstellen können. MANN BEISST HUND und AALTRA lassen grüßen. Wie diese erbarmungslosen Meisterwerke kommt auch WENN ICH ES OFT GENUG SAGE, WIRD ES WAHR in schlichtem Schwarz-Weiß und Unterhosen-Ästhetik daher.
Zwar ist die Welt im Film kalt und lieblos, doch Serons Perspektive ist es nicht. Denn all die infantilen Einzelgänger haben bei ihm im Grunde nur Angst davor zu sterben; Angst, verlassen zu werden. Liebevoll ist auf jeden Fall die Inszenierung. Zugegeben, Seron konzentriert sich so sehr auf jede einzelne Szene, daß der Erzählfluß zuweilen ins Stocken gerät. Man merkt, daß er vorher mit Leidenschaft Kurzfilme gedreht hat. Doch Einfallsreichtum und subtiles Schauspiel gleichen das aus.
Originaltitel: JE ME TUE À LE DIRE
F/Belgien 2016, 90 min
FSK 12
Verleih: Film Kino Text
Genre: Tragikomödie
Darsteller: Jean-Jacques Rausin, Myriam Boyer, Serge Riaboukine, Fanny Touron
Regie: Xavier Seron
Kinostart: 14.12.17
[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...