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Werden Sie Deutscher

Was ist das: „typisch deutsch“?

Ein Pädagoge steht vor seiner Klasse und ruft im typischen Oberlehrerton zur Mitarbeit auf. Keine per se ungewöhnliche Situation – wären die Schüler nicht teilweise über 40, klänge das „Ihr“ darum nicht respektlos. Es handelt sich um Migranten, die Deutsch lernen wollen, gesellschaftliche Integration ist das Ziel.

Regisseurin Britt Beyer sitzt im Raum dabei, beobachtet kommentarlos, läßt dafür die Teilnehmer in privaten Gesprächen zu Wort kommen, über Träume und Wünsche, aber eben auch über Ängste vor der Abschiebung oder Probleme mit der Ausländerbehörde berichten. Sie taucht ebenso tief in familiäre Strukturen ein – etwa dann, wenn Rollenbilder auf den Kopf gestellt werden, indem eine in Deutschland aufgewachsene und entsprechend sprachgewandte Tochter ihren Eltern Nachhilfe erteilt, oder die deutsche Gattin eines jungen Mannes aus Bangladesch den Angetrauten irgendwo zwischen liebevoll und überheblich ineinander zerfließenden Grenzen auf Fehler hinweist. Doch die Filmemacherin hat noch einiges mehr vor.

Quasi von hinten durch die Kinobrust ins Zuschauerauge geht sie der Frage nach, was unser Land und seine Bewohner eigentlich im Selbstbild ausmacht, illustriert am auf dem Lehrplan befindlichen Stoff. Da üben die Lernwilligen in Rollenspielen korrektes nachbarschaftliches Konfliktverhalten, und natürlich stehen zu laute Musik sowie schockierenden Schmutz im Treppenhaus hinterlassende Kinder zur kontroversen Debatte. Im Sinne der Vorbereitung auf mögliche Vorstellungsgespräche wird den Migranten – was auch sonst – eine Stelle als Putzhilfe angeboten. Und so richtig zur Realsatire gerät das Ganze angesichts einer Verbalübung, welche folgendes verkündet: „Ich arbeite viel und komme immer sehr spät nach Hause.“ Ja, so sehen sie sich wohl am liebsten, die bienenfleißigen Deutschen, deren größtes und einziges Glück nach hartem Joballtag darin besteht, am Abend einen Krimi im Fernsehen präsentiert zu kriegen – zumindest verrät genau jenes die Fortsetzung der eben angesprochenen Lektion.

Am Ende bekommt, wer den Test inklusive mündlicher Prüfung bestand, nicht nur ein Blümchen, sondern ebenfalls sein Zeugnis in die nun offiziell deutschsprachige Hand gedrückt. Daß selbiges trotzdem nicht automatisch für eine Aufenthaltsgenehmigung steht, macht nur einen Teil des bitteren Nachgeschmacks aus, den diese absolut sehenswerte Doku hinterläßt.

D 2011, 84 min
FSK 0
Verleih: Oktoberfilm

Genre: Dokumentation

Stab:
Regie: Britt Beyer
Drehbuch: Britt Beyer

Kinostart: 17.05.12

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...