Unter den Fahrschäften ist die „Wilde Maus“ ein urzeitliches Gerät. Positiv gesagt: Sie hat Tradition. Der besondere Kick dieser Achterbahn entsteht nicht durch die Höhe, sondern durch die Kantigkeit der Kurven und die klobigen Wagen, denen man intuitiv mißtraut, so daß man in jeder Kurve glaubt, aus der Bahn geworfen zu werden.
Und das ist schon die Kurve zur ebenfalls urzeitlichen Figur, die Schauspieler und Kabarettist Josef Hader in seinem Regiedebüt natürlich selbst verkörpert. Der altgediente Musikkritiker Georg wird nämlich aus seiner Zeitung entlassen. Es muß gespart werden. Man kennt das Spiel: Kulturkritik wird überflüssig, ist ohnehin nur noch Marketing, Volontäre dürfen übernehmen. Es hilft nichts, daß Georg seinen Chef anfleht: Er habe noch nie einen anderen Beruf ausgeübt. Den Chef zu beschimpfen, hilft noch weniger. Die Szene, die bereits voller Peinlichkeiten steckt, ist der Auftakt zu einer Achterbahnfahrt der Selbstentblößungen.
Daß Georg seinen Lebenssinn darin gesucht hat, bösartige Artikel zu schreiben, die seine größten Fans an Alfred Polgar erinnern, aber auch das Zeug haben, armen Musikern das Genick brechen, fällt ihm nun in mehrfacher Hinsicht auf die Füße. Eine Krise gibt es auch in der Ehe. Seine jüngere Frau, die Psychotherapeutin Johanna, mit 40 nun selbst in der Midlife-Crisis, will ein Kind haben. Er sagt ja, aber nein; ist zwar bereit, seinen Samen zu geben, aber nur auf die klassische Art. Stattdessen treibt er sich tagsüber heimlich auf dem Wiener Prater herum und wird Teilhaber, eben, der gerade verwaisten „Wilden Maus.“
Bei all den Krisen sollte man das utopische Potential des Filmes nicht übersehen. In WILDE MAUS werden alle zu Hanswürsten degradiert, denn alle bewegen sich in heutigen Zeiten gleichermaßen auf dünnem Eis, verängstigt, wenig souverän und ziemlich kleingeistig. Da ist wenigstens wieder Gleichheit hergestellt. Und so kommt es auch zu den ungewöhnlichsten Allianzen. Wie der zwischen Georg und seinem mürrischen Fahrgeschäft-Kompagnon Erich, eine Musterrolle für Georg Friedrich. Der eine Mittelschicht, der andere Unterschicht – beide arbeitslos. Oder der zwischen Johanna, welche Pia Hierzegger komisch und melancholisch zugleich spielt, und ihrem jüngeren, schnöseligen Patienten. Der ist zwar homosexuell, fühlt sich aber plötzlich zu seiner Therapeutin hingezogen. Hader schickt Georg und Johanna parallel auf eine absurde Odyssee durch Wien, streift dabei diverse gesellschaftliche Stimmungsbilder und Lifestyle-Fragen, vom Veganismus bis zu antideutschen Allüren, und setzt, nicht ohne Poesie, das alte, das obsolete Wien als passende Kulisse ein. Den Prater, der tagsüber eine Geisterstadt ist. Das Neonlicht der Straßenbahnhaltestellen. Oder das Konzerthaus, in dem keiner mehr weiß, ob er klatschen soll oder nicht. Alles steht in Frage, alles kann neu durchmischt werden. Und da verwundert es kaum noch, daß Georg und Johanna unwahrscheinlicherweise unterwegs auf dieselben Personen stoßen, nur in anderen Zusammenhängen.
Während ein abstruser Rachefeldzug, den Georg gegen seinen ehemaligen Chef führt und den dieser kaum weniger kopflos erwidert, als Leitfaden für die lose Handlung dient, sucht Hader die Auflösung doch auf dem Gebiet der Beziehung und zaubert noch ein traurig-schönes Finale herbei. Vor allem aber schafft er es, große Empathie zu wecken für seine eher wenig sympathischen Figuren.
Österreich 2017, 103 min
FSK 12
Verleih: Majestic
Genre: Tragikomödie
Darsteller: Josef Hader, Pia Hierzegger, Georg Friedrich, Jörg Hartmann, Denis Moschitto
Regie: Josef Hader
Kinostart: 09.03.17
[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...