Noch keine Bewertung

Winterdieb

Den Finger auf Wunden

Wenn sich von Filmen vor allem auch Schlußbilder einprägen, dann ist das hier eines davon. Der 12jährige Simon fährt in einer Seilbahn nach unten, die ältere Louise rauscht nach oben an ihm vorbei. Sehnsucht reist in beiden Gondeln mit, Erlösung im Blick, daß es den anderen noch gibt. Und trotzdem ist nichts klar für die Zukunft.

Simon lebt allein mit Louise in einem Hochhausblock im Tal. Der blasse Junge, immer am Rande großen Hungers, ist der WINTERDIEB – ein Titel, den sich der deutsche Verleih schwer abgerungen hat. Zur Berlinale hieß er noch SISTER, dann folgte mit SIMON & LOUISE einer diese unsäglichen Doppelnamen, zur Übersetzung des Originaltitels konnte man sich nicht durchringen. WINTERDIEB ist jetzt präzise, denn Simon zieht auf die Pisten und klaut Skifahrern die Ausrüstung. Mal eine Sonnenbrille, einen Helm, Rucksäcke mit Verpflegung, bevorzugt Abfahrtsski. Simon nimmt alles, denn seine Abnehmer sind zunächst die Kinder im Ort. Mit einem Freund macht er Kratzer in die Bretter, damit dessen Vater nicht stutzig wird. Ansonsten sorgen Bügeleisen und Wachs dafür, daß die Ski schöner werden. Simon wird zum Halbprofessionellen.

Louise kommt und geht, wann sie will. Sind sie zusammen, ist da Simons greifbares Sehnen nach Nähe, Wärme, Zuwendung. Er kauft sich gar ihr Kuscheln. Auf Louises Seite dominieren Distanz und überspielte Angst. Braucht sie etwas Geld für Zigaretten, bettelt sie Simon an. Ein eigenartiges Verhältnis. Als Simon im Bergrestaurant einen Komplizen gewinnt, gibt es zwar mehr Kohle, bald aber auch richtigen Ärger. Und wenn die Seilbahn für diese Saison schließt, wird zwischen Simon und Louise vieles anders sein – Entscheidendes.

WINTERDIEB ist der zweite Kino-Spielfilm von Ursula Meier. Nach dem bizarren HOME, dem „horizontalen“, sei es nunmehr ihr „vertikaler“. Es geht ums Oben und Unten im physischen und allegorischen Sinne, denn ganz im Stil von Regisseuren wie den Dardenne-Brüdern legt die Schweizerin den Finger auf soziale und emotionale Wunden. Nicht als wertendes Pamphlet, eher als beobachtendes, im Knackpunkt überraschendes, von Kacey Mottet Klein und Léa Seydoux souverän ausgespieltes Drama. Eines, das zwischen Himmel und Erde das Hier und Heute im Blick hat.

Originaltitel: L’ENFANT D'EN HAUT

F/CH 2012, 97 min
FSK 6
Verleih: Arsenal

Genre: Drama, Poesie

Darsteller: Kacey Mottet Klein, Léa Seydoux, Martin Compston, Gillian Anderson

Regie: Ursula Meier

Kinostart: 08.11.12

[ Andreas Körner ]