Film eröffnet Möglichkeitsräume und erlaubt es uns, in ein gigantisches "Was-wäre-wenn-Spiel" einzusteigen. Gar nicht selten werden die fiktiven Versuchsanordnungen nach kurzer Zeit tatsächlich von der Wirklichkeit eingeholt. Das wird dann häufig als Gütezeichen für die filmische Vision verbucht, sagt aber eigentlich nur etwas über die Verankerung des Regisseurs in der sozialen Wirklichkeit aus.
Es ist in der Tat eine höchst interessante und gar nicht mal so weit her geholte Vision, die der Newcomer Marc Meyer in seinem ersten Spielfilm entwickelt. Der einsame Psychopath Oliver klaut sich das, was ihm am meisten fehlt: eine Familie, komplett mit Frau, Kindern, Oma und Hund. Eine Streunerin, die einen Schlafplatz sucht und ein schwarzwohnender Altkommunist aus der Wohnung nebenan werden - als große Schwester und Opa - einfach in die Familie zwangsintegriert. Alle zusammen mauert Oliver in einen verlassenen Plattenbau mit Tonnen von Vorräten ein, um sie mittels autoritär diktierter, aber immer gruppendynamisch angehauchter Regeln in eine richtige Familie zu verwandeln. Für sich selbst hat Oliver die Rolle des strengen, aber gerechten Familienoberhauptes vorgesehen. Papa Oliver verliert aber bald die Kontrolle über das Experiment, weil sich die lieben Familienmitglieder in ihr neues Glück einfach nicht fügen wollen und sich gebärden wie psychisch gestörte Entführungsopfer.
Glück läßt sich eben nicht erzwingen, und so versinkt die künstliche Familie gründlich in Streit und Chaos, wunderbar gespielt von einem Schauspieler-Ensemble, dem man die Freude an der Verkörperung dieser absurden Konstellation deutlich anmerkt. Bliebe es dabei, geriete ein solcher Plot leicht in Gefahr, im Seichten zu versanden. Tatsächlich gelingt hier aber das Kunststück, inmitten einer komödiantischen Versuchsanordnung immer wieder Momente echten Gefühls zu schaffen, die eine ganze Menge über die soziale Vereinsamung und den Familienwahn unserer Zeit aussagen.
Auch wenn nicht wirklich zu befürchten ist, daß in den verlassenen Vierteln unserer Städte lauter Geiselfamilien wohnen, so beschreibt der Film doch auf gekonnte Weise eine gesellschaftliche Atmosphäre, in der das Alleinsein nur noch als tragisches Schicksal wahrgenommen wird und eine glückliche Familie als Nonplusultra gilt. Dabei bleibt es offen, wie zufrieden all die "glücklichen Familien" da draußen tatsächlich wirklich sind.
D 2007, 97 min
Verleih: Zorro
Genre: Drama
Darsteller: Samuel Finzi, Nina Kronjäger, Anna Maria Mühe, Harald Warmbrunn
Regie: Marc Meyer
Kinostart: 20.12.07
[ Luc-Carolin Ziemann ] Carolin hat ein großes Faible für Dokumentarfilme, liebt aber auch gut gespielte, untergründige Independents und ins Surreale tendierende Geschichten, Kurzfilme und intensive Kammerspiele. Schwer haben es historische Kostümschinken, Actionfilme, Thriller und Liebeskomödien ... aber einen Versuch ist ihr (fast) jeder Film wert.