Originaltitel: LES OLYMPIADES

F 2021, 106 min
FSK 16
Verleih: Neue Visionen

Genre: Drama

Darsteller: Lucie Zhang, Makita Samba, Noemie Merlant

Regie: Jacques Audiard

Kinostart: 07.04.22

12 Bewertungen

Wo in Paris die Sonne aufgeht

Waschechter Audiard und eben keine Postkarte

Les Olympiades nennt sich ein Viertel im Pariser 13. Arrondissement, das mit einer Ballung an in den 70er Jahren errichteten Wohnhochhäusern aufwartet. Ein markant in den Himmel ragendes Gebäudeensemble, das auf seine Art gut hineinpaßt in ein extrem urbanes Umfeld, zu dem unter anderem noch der hektische Place d´Italie, das vor Leben übersprudelnde Quartier asiatique und – nicht zu vergessen! – die neue Bibliothéque national de France mit ihren vier 79 Meter hohen Glasfassaden-Türmen gehören. Insgesamt ein Setting, das den Postkartenklischees, die frankophile Kulturbürger und Touristen von Paris gemeinhin so pflegen, die schöne kalte Schulter zeigt.

Kurzum: Les Olympiades ist ausgesprochen faszinierend. Modern, multikulturell, pulsierend, von ganz eigenem, ambivalentem Glanz, zu dem freilich auch eine gewisse Schäbigkeit und Sprödheit dazugehören. Und natürlich ist es eine programmatische Ansage, wenn der französische Großregisseur Jacques Audiard seinen neuen Film schlicht LES OLYMPIADES nennt. Und nein: Jetzt wirklich kein Wort zum deutschen Titel.

Émilie jobbt lustlos in einem Call Center und lebt in der Wohnung ihrer Großmutter, die, an Demenz erkrankt, in einem Pflegeheim untergebracht ist. Camille ist Lehrer an einem Gymnasium und zieht bei Émilie als Mitbewohner ein. Zwischen beiden entspinnt sich eine Affäre. Zur gleichen Zeit kommt Nora nach Paris, um hier Jura zu studieren. Durch einen absurden Zufall wird sie von ihren Kommilitonen mit dem Camgirl Amber Sweet verwechselt. Geschockt und verstört von dem daraufhin folgenden Cyber-Mobbing, wirft Nora ihr Studium hin und sucht den Kontakt zu Amber Sweet.

Wer Audiards Filme kennt und schätzt, wird vielleicht ein wenig verwundert sein, wie sehr der Schöpfer von EIN PROPHET, DÄMONEN UND WUNDER, DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN oder THE SISTERS BROTHERS mit seinem neuen Werk die erzählerische Tonlage geändert hat. Die melodramatische Wucht, die Expressivität, die Härte, nicht zuletzt die Gewalt, die Audiards Filme oft auszeichnet (und in Teilen umstritten macht), sind hier einer erzählerischen Nonchalance, einer so feingesponnenen Melancholie und einem ebensolchen Humor gewichen, daß man darüber fast geneigt sein könnte, dem inzwischen 69jährigen Audiard beginnende Altersmilde zu unterstellen. Wäre da nicht zugleich das Ungeschönte, das Ungetrübte, mit dem Audiard auch hier auf menschliche Verhaltensweisen blickt. Darauf, wie schwer es sein kann, seinen Platz im Leben zu finden. Darauf, wie leichtfertig verletzend Menschen miteinander umgehen. Wie blind man für das Glück (hier das der Liebe) ist, das doch oft so greifbar nahe liegt. Und darauf, wie sich dennoch alles fügen kann, auf diesen verrückten, seltsamen Wegen, die das Leben manchmal so nimmt. Und die sich hier eben in Les Olympiades kreuzen und verwirren, wieder voneinander entfernen und erneut zueinander führen.

Basierend auf drei Graphic-Novel-Stories des New Yorker Comic-Autors Adrian Tomine hat Audiard gemeinsam mit zwei Regie-Hoffnungsträgerinnen des französischen Kinos, mit Léa Mysius und Céline Sciamma, am Drehbuch zu LES OLYMPIADES gearbeitet. Zu spekulieren, wie hoch beider Anteil daran ist, daß dem Film die Neigung zum Melodramatischen, zum Pathos, auch zum Prätentiösen (Dinge, die Audiard bei aller ihm eigenen Meisterschaft nicht ganz fremd sind), völlig fehlt, ist müßig. Bezüglich der weiblichen Erzählperspektiven des Films ist das anders: Denn die Selbstverständlichkeit und Ungezwungenheit, mit der hier eben gerade von weiblicher Sexualität, weiblichen Selbstzweifeln und Selbstbewußtsein erzählt wird, trägt klar weibliche Handschrift. In der Inszenierung hat sich Audiard dieser wunderbar gefügt. Und einen Film geschaffen, der seine emanzipierte und multikulturelle Modernität maßgeschneidert ins klassisch elegante Gewand eines Nouvelle-Vague-haften Erzählens in bestechenden, spröde schönen Schwarzweiß-Bildern kleidet. Das paßt zum Charakter dieser Geschichte wie zu dem ihrer Figuren. Das paßt zu Les Olympiades, zum Stadtviertel wie zum Film. Starkes Kino, faszinierend und fern der Postkartenklischees.

[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.

Wo in Paris die Sonne aufgeht ab heute im Kino in Leipzig