Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben, sang einst der Schlagerbarde Jürgen Marcus. Aber gilt das auch für eine Liebe, die spät passiert, die einer ganz langjährigen folgt? Gilt natürlich - und das ist nur eine der kraftvollen, lebenshungrigen, bisweilen auch schmerzhaften Aussagen in Andreas Dresens meisterlichem Film.
Es ist einfach nie zu spät, es zuzulassen, aufzubrechen, auszubrechen, zum Beispiel für Inge - aus einer Welt, in der einem vor lauter Bügeln und Nähen der Nacken schmerzt. Dabei sind ihre privaten Näharbeiten der Schlüssel zum neuen Glück. Eines Tages bringt sie Karl die geänderte Hose, schaut ihm mit einem scheuen Mädchenlächeln beim Anprobieren zu, die Blicke treffen sich, und wenige Momente später liegen ihre Körper dicht beieinander: verschwitzt, kraftlos, erleichtert. Er fast 80, sie geht auch schon langsam auf die 70 zu. Zwei ältere Menschen, die noch begehren, die Wünsche haben und jeder seinen entsprechenden Hintergrund. Und zu Inges gehört eben auch Werner, der Mann, mit dem sie seit über 30 Jahren lebt, der ihre Tochter aufgezogen hat, der es ihr aber auch nicht immer einfach macht, das Leben und die Liebe spannend zu finden. Werner ist einer, der ein wenig resigniert, der sich zu den letzten Überlebenden des einstigen Eisenbahnerkollegiums zählt, der gern mal Schallplatten mit Lokomotivgeräuschen auflegt. Schon ein Liebestöter, aber kein schlechter Mensch, gewiß nicht. Genau das macht Inge zu schaffen, weil sie ihm nicht weh tun mag. Aber sie will das Leben wieder spüren, und so verbringt sie bald einen Tag mit Karl am See ...
Dresens wahrhaftigen und liebesverzweifelten Film auf die Sexszenen zu reduzieren, wie dies in der Berichterstattung nach Cannes gern geschah, wäre töricht, wenn jene Szenen auch wichtig für diese sensible und ehrliche Geschichte sind. Sie gehören einfach dazu, sie sind gottlob genauso gefilmt wie Dresens Figuren: natürlich, ungelenk, ohne Hamilton-Ästhetik, eher mit uneitlem Blick auf Fettpölsterchen, Altersflecken, verklebtes Haar. Genauso natürlich ist der Ton des Films, auch bei den nicht ausbleibenden Auseinandersetzungen zwischen Werner und Inge. Da ist einfach alles echt, die Tränen, die Worte, nirgends ein Hauch von den sonst üblichen TV-Schablonen, wo pure Entrüstung stets lächerlich wirkt.
Der Zuschauer wird Inge verstehen, wenn einem auch das Herz - wie Dresens Heldin - beim Anblick des zurückbleibenden Werner schmerzt. Aber der erinnert sich eben nur, was damals war. Karl ist einer, der in die Zukunft schaut: "Mal ’ne Reise machen ..." Dresen findet dazu die entsprechenden unprätentiösen, auf den Punkt montierten Bilder, auch solche, die von der großen Zerrissenheit erzählen. Mal schaut die Kamera auf zwei und später nur noch auf einen Schmuckteller an der Wand. Alles hat vielleicht seine Zeit, meint Inge, Werner fleht, daß ihnen doch davon nur noch so wenig bleibt. Benzin in das Feuer der Sehnsucht. Sehnsucht nach einem Leben, von dem man mehr erwarten darf als das Rattern der Nähmaschine im ehelichen Schlafzimmer.
D 2008, 99 min
FSK 12
Verleih: Senator
Genre: Drama, Liebe
Darsteller: Ursula Werner, Horst Rehberg, Horst Westphal, Steffi Kühnert
Regie: Andreas Dresen
Kinostart: 04.09.08
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.