Die einleitenden märchenhaften Kunstgriffe der Regisseurin Moufida Tlatli sollten auch europäischen Zuschauern nicht den Zugang zur Thematik ihres neuesten Films verwehren. Da wird eine Tür aufgestoßen oder eine Truhe geöffnet, und man befindet sich in der Vergangenheit. Ein Hochzeitsgewand wird nach Jahren hervorgeholt und von der Zeremonie einer tunesischen Heirat in anmutigen Bildern berichtet. Aber die Rückblenden in orientalischer Erzählweise zeugen nicht von märchenhaften Verwicklungen, und auch die Gegenwart erschöpft sich nicht in der Heirat eines Prinzen und einem "Sie lebten glücklich bis an ihr Ende".
Es soll ein gemeinsamer Anfang sein, als Aicha mit 18 Jahren heiratet, doch Said arbeitet wie fast alle Männer der Insel Djerba elf Monate im Jahr in Tunis. Aicha bleibt im Haus der Schwiegermutter und Schwägerinnen zurück. Einen Sohn soll sie gebären, wenn sie ihrem Mann nach Tunis folgen will, doch zunächst werden es zwei Töchter sein. So verbringt Aicha die ersten Jahre ihrer Ehe unter dem strengen Matriarchat der Schwiegermutter in Djerba, wo die Frauen die alljährliche Wiederkehr ihrer Männer wie ein Fest feiern. Als Aicha den geforderten Sohn gebiert, wird der ersehnte Umzug in die Stadt zu einem Albtraum, denn Aziz ist Autist und jedes Geräusch in der Stadt erschreckt ihn. Inzwischen getrennt von ihrem Mann, kehrt sie deshalb nach einigen Jahren mit ihren erwachsenen Töchtern, Sohn und einer Freundin in das mittlerweile verlassene Haus nach Djerba zurück. Mit der Rückkehr der Frauen auf die Insel werden Erinnerungen wach, die dazu angetan sind, die Gegenwart zu ändern ...
Moufida Tlatlis zweiter Film ist wie schon PALAST DES SCHWEIGENS ein dichtes Geflecht aus Rückblenden, Träumen und Erinnerungen, gewebt wie der Teppich, der auch hier zur zentralen Metapher wird. Die Figuren sind klar konturiert und vielseitig, die Geschichte ist mit interessanten Nebensträngen erzählt - ein Fenster zur tunesischen Wirklichkeit wird aufgestoßen. Die Verschlingung der Gegenwart mit vergangenen Ereignissen macht die filmische Struktur nicht immer leicht durchschaubar, doch reflektiert sie die Nachhaltigkeit jahrhundertealter Traditionen und gesellschaftlichen Wandel.
Originaltitel: LA SAISON DES HOMMES
Tunesien/F 2000, 124 min
Verleih: Kairos
Genre: Drama
Darsteller: Rabiaa Ben Abdallah, Sabah Bouzouita
Regie: Moufida Tlatli
Kinostart: 06.12.01
[ Jane Wegewitz ] Für Jane ist das Kino ein Ort der Ideen, ein Haus der Filmkunst, die in „Licht-Schrift“ von solchen schreibt. Früh lehrten sie dies Arbeiten von Georges Méliès, Friedrich W. Murnau, Marcel Duchamp und Man Ray, Henri-Georges Clouzot, Jean-Luc Godard, Sidney Lumet, Andrei A. Tarkowski, Ingmar Bergman, Sergio Leone, Rainer W. Fassbinder, Margarethe v. Trotta, Aki Kaurismäki und Helke Misselwitz. Letzte nachhaltige Kinoerlebnisse verdankt Jane Gus Van Sant, Jim Jarmusch, Jeff Nichols, Ulrich Seidl, James Benning, Béla Tarr, Volker Koepp, Hubert Sauper, Nikolaus Geyrhalter, Thierry Michel, Christian Petzold und Kim Ki-duk.