Es ist überall zu laut. Die Straßenbahn vorm Schlafzimmerfenster, der schnarchende Partner, das Telefonieren im Zugabteil. Geräuschlosigkeit ist ein hohes Gut, und das ist uns in industrialisierten und vor allem digitalisierten Zeiten irgendwie abhanden gekommen. Das Ergebnis: Wir verlieren uns selbst. Und auch wenn diese Info nicht besonders originell oder neu ist, so trifft sie doch dem Zeitgeist mitten ins Herz: Es mangelt uns also nicht nur an Zeit, sondern auch an Ruhe, und deswegen werden wir zu Getriebenen unserer selbst, zu rastlosen Suchenden, die zwischen all den Yoga- und Achtsamkeitsangeboten, Atemlernkursen und Lebenshilfe-Ratgebern mit Geräuschen überschüttet werden.
ZEIT FÜR STILLE schafft es, uns 90 Minuten lang bewußt zu machen, welchem Lärmschmutz wir ausgesetzt sind und wie schädlich er für unsere Gesundheit und für unser Seelenheil ist. Und auch wenn das manchmal fast pädagogisch wirkt, so bemitleidet man automatisch die Schüler einer New Yorker Schule, die direkt neben Bahngleisen lernen sollen. Die tanzenden Inder auf Mumbais Straßen haben zwar Spaß, leben aber in der lautesten Stadt der Welt.
Jeder Ort im Film wird durch seinen Dezibel-Wert kategorisiert. Und vereinfacht die Nachricht: „Stille bringt uns zu dem zurück, was echt ist“, lautet eins der vielen philosophischen Statements im Film. Auf der Suche nach dieser Echtheit hat der Filmemacher Patrick Shen nicht nur Wissenschaftler und Künstler befragt, er ist auch um die Welt gereist. Er hat die echofreie Kammer der Orfield Labs in Minneapolis, den stillsten Ort der Welt, besucht, ist durch den Denali-Nationalpark in Alaska gewandert oder hat einer traditionellen Teezeremonie in Kyoto beigewohnt. Schön fotografierte lange Einstellungen bebildern etwas, was nicht sichtbar ist. Das ist beruhigend, genauso wie den Wanderer zu beobachten, der schweigend und zu Fuß Nordamerika durchquert.
Und auch wenn zuweilen die Geräuschphasen im Film dominieren, hat der Regisseur das Thema quasi inhaliert. Das Filmteam legte vor jedem Gespräch eine Schweigeminute mit den jeweiligen Protagonisten ein. Auch beginnt alles mit 4 Minuten und 33 Sekunden experimenteller Stille, als Tribut an John Cages Komposition „4’33’’.“ Die Lärmleidenden und Großraumbürogeschädigten werden sich am Ende bestätigt fühlen. Aufmerksamkeit und Konzentration haben nicht nur etwas mit uns selbst zu tun, sondern auch damit, welche Bedingungen unsere Gesellschaft für sie schafft.
Originaltitel: IN PURSUIT OF SILENCE
USA/Belgien/China/D/HK/Indien/J/Taiwan/GB 2015, 81 min
FSK 0
Verleih: Mindjazz
Genre: Dokumentation
Regie: Patrick Shen
Kinostart: 30.11.17
[ Claudia Euen ]