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Zeit ohne Eltern

Sensible Dokumentation versus Ostalgie

Beide Mädchen sind zehn Jahre alt, als sie von ihren Eltern getrennt werden. Franziska ist auf dem Weg zur Schule, als Männer in Anzügen kommen, um die Eltern abzuholen. Und Janas Eltern werden, zwei Kinder an ihrer Seite, bei einem Fluchtversuch an der grünen Grenze in Thüringen gefaßt. Franziska lebt danach zunächst mit dem Bruder bei den Großeltern und wird ihren Eltern, die nach einem Jahr aus der Haft in die BRD "freigekauft" werden, schließlich an der Grenze "übergeben". Jana landet mit dem kleinen Bruder im Kinderheim. Später lebt sie mit ihrer Familie bis zum Fall der Mauer weiter im Osten, observiert durch die Stasi.

Zwei Töchter, zwei Elternpaare und zwei Familiengeschichten stehen für die geschätzte Zahl von einer Million betroffenen Familien in der ehemaligen DDR. Celia Rothmund recherchierte für ihren Film insgesamt in zwanzig Familien, die alle dem gleichen psychischen Zersetzungsprozeß des Systems ausgeliefert waren. Behutsam rekonstruiert sie die Geschichte ihrer Protagonisten nach der ZEIT OHNE ELTERN, als ein normales Zusammenleben nicht mehr möglich war, die Familien auseinanderbrachen. Die einzelnen Etappen, in denen der Film entstand, begleiten einen Prozeß der Erinnerung, eine Zeit, in der die einzelnen Personen, Töchter und Eltern, nach und nach ihre eigene Geschichte wiederentdecken. Auf diese Weise vollzieht sich eine Rekonstruktion der Vergangenheit aus unterschiedlichen Perspektiven und in Kapiteln, die dem Film seine Struktur geben.

Rothmund drehte mit jedem einzelnen Familienmitglied über mehrere Tage und gelangte zu sehr persönlichen Momenten, in denen traumatische Erinnerungen an das Erlebte beschrieben werden. Mit großem Feingefühl und Empathie fand sie in ästhetisch nüchternen Interviewszenen zu einer Atmosphäre, die Verdrängtes an die Oberfläche gelangen läßt. Andere Szenen, in denen sie sich mit ihren Protagonisten zu Orten des früheren Geschehens begibt, fungieren gleichsam als Pfade der Erinnerung. Rothmund verzichtet auf jegliches Archivmaterial und Kommentare. Bilder entstehen zu lassen, überläßt sie allein dem Zuschauer. "Dem durch Komödien oder Ostalgie-Shows einseitig reproduzierten Bild etwas entgegen zu setzen", war ihr erklärtes Anliegen, und ihr Film ist in diesem Sinne ein achtenswerter Ansatz, der nun seine Zuschauer verdient.

D 2005, 67 min
Verleih: Yetifilm

Genre: Dokumentation, Schicksal

Darsteller: Franziska Kriebisch, Jana Birner, Sabine Bayraktar-Zucker

Regie: Celia Rothmund

Kinostart: 14.09.06

[ Jane Wegewitz ] Für Jane ist das Kino ein Ort der Ideen, ein Haus der Filmkunst, die in „Licht-Schrift“ von solchen schreibt. Früh lehrten sie dies Arbeiten von Georges Méliès, Friedrich W. Murnau, Marcel Duchamp und Man Ray, Henri-Georges Clouzot, Jean-Luc Godard, Sidney Lumet, Andrei A. Tarkowski, Ingmar Bergman, Sergio Leone, Rainer W. Fassbinder, Margarethe v. Trotta, Aki Kaurismäki und Helke Misselwitz. Letzte nachhaltige Kinoerlebnisse verdankt Jane Gus Van Sant, Jim Jarmusch, Jeff Nichols, Ulrich Seidl, James Benning, Béla Tarr, Volker Koepp, Hubert Sauper, Nikolaus Geyrhalter, Thierry Michel, Christian Petzold und Kim Ki-duk.