Originaltitel: EN CHANCE TIL
DK 2014, 104 min
FSK 12
Verleih: Prokino
Genre: Drama
Darsteller: Nikolaj Coster-Waldau, Maria Bonnevie, Ulrich Thomsen, Nikolaj Lie Kaas, May Andersen
Regie: Susanne Bier
Kinostart: 14.05.15
War es nicht eine der göttlichsten und zugleich überraschendsten Szenen der Filmgeschichte? Idyllische Siedlung, ruhig gelegen, prima Klima – plötzlich fällt da dieser Scheinwerfer von oben ins Bild und knallt neben das Trottoir. Kaum zuvor und selten danach habe ich meinen Beruf so sehr geliebt wie in diesem Moment des Jahres 1998. Denn als der deutschen Presse Peter Weirs Geniestreich THE TRUMAN SHOW gezeigt wurde, hatte sich noch nicht zwangsläufig herumgesprochen, daß sich das Leben des Helden von Geburt an als Fernsehshow vor den Augen von Abermillionen Zuschauern abspielt. Alles nur Kulisse, alles nur Schauspieler, alles beleuchtet. Und mittendrin Truman Burbank, so unwissend wie der aufrecht gutgläubige Kritiker im Saalgestühl.
Die später gedruckten und gesendeten Kritiken freilich killten dem „normalen“ Publikum diesen wunderbaren Effekt. Ein fataler Umstand, der Filmerlebnisse immer wieder neu beeinflußt. Zu früh verkündete Todesfälle und Wendungen, leichtfertig beschriebene Scheidungen und Explosionen können Sehhaltungen manipulieren. Auch deshalb greifen die Verleiher vereinzelt zum letzten Mittel, wenn sie Journalisten am Ethos ihrer Profession packen und ausdrücklich darum bitten, nicht zu viel zu verraten und gleich gar nicht das Ding am Schluß.
Im Falle von ZWEITE CHANCE fehlt diese Aufforderung. Lieber PLAYER-Leser, liebe PLAYER-Leserin! Sind Sie bereit für einen Deal? Versprechen Sie dem Schreiber, sich allein mit seinen sparsamen Worten im Kopf diesem – versprochen! – überwältigenden Leinwandstück zu widmen? Sie werden es nicht bereuen! Es fällt keine Lampe vom Himmel, auch ist das Leben der Figuren nicht als Show inszeniert, wie zwingend sich jedoch die eine Tat mit der nächsten Folgehandlung verschränkt, ist in der Wirkung nur mit freiwilliger Unwissenheit am stärksten.
Was aber darf man wissen? Daß es der neue Film von Susanne Bier ist, und daß dieser auf einem Drehbuch von Anders Thomas Jensen basiert. Die Dänin und der Däne waren bereits für OPEN HEARTS, BROTHERS, NACH DER HOCHZEIT und IN EINER BESSEREN WELT vereint. Im Vergleich zu ihren internationalen Projekten waren sie dabei auch am stärksten. All die genannten Werke sind schlaue und unbequeme Parabeln auf den Umgang mit Schuld und Moral, Werten und Zufällen. Sie zielen auf das Individuum und die Familie im Kleinen, meinen aber die Gesellschaft. Sie sind relevant, gehen auch beim zweiten, dritten Blick noch vom Hirn direkt an die Nieren. ZWEITE CHANCE schafft es nicht minder.
Susanne Bier selbst gibt sich vorsichtig genug mit Rezeptionsvorlagen. „Es ist“, sagt sie, „ein intensiver persönlicher Film, der erzählt, was passiert, wenn sich verletzliche Menschen in Extremsituationen wiederfinden, die jenseits ihrer Kontrolle liegen. Es ist ein Film darüber, daß wir keineswegs so immun gegen das Chaos sind, wie wir es uns wünschen. Und es ist ein Film über die Geheimnisse, die Menschen hüten, die uns am nächsten stehen.“ Da sind zwei Polizisten, Andreas und Simon, die tagtäglich zu viel Elend sehen, als daß sie ihr Privatleben damit auch noch aufladen müssten. Andreas gelingt es im Haus am Meer mit Familie bestens, Simon dagegen ist gestrauchelt, einsam, fokussiert aufs Kompensieren von Leerstellen. Wer sich wohl besser für ein Drama eignet? Richtig, Andreas! Denn als er und Simon bei einem Routineeinsatz wegen Ruhestörung im Neubaublock neben den drogenabhängigen Eltern auch auf deren völlig verwahrlostes Baby stoßen, setzt sich, von unfaßbarer Tragik getrieben, eine Spirale in Gang. Plötzliche Ereignisse fordern schnelle Lösungen, Richtig fordert Falsch zum Duell, Nötig rangelt mit Verwerflich.
ZWEITE CHANCE geht in seiner Struktur nicht den einfachen Weg, zieht sich nicht episodisch aus der Schlinge. Mit linearer Nachdrücklichkeit reißt Susanne Bier über Stimmungen und verblüffend viele Nahaufnahmen von Händen, Klingen, Augen die jeweils neue Haut der Zwiebel nur an, herunterziehen wird sie der Zuschauer.
Und da ist es wirklich besser, nein, vonnöten, wenn er nicht zu viel weiß. Im Vorfeld. Erst danach kennt er mehr, vor allem von sich selbst.
[ Andreas Körner ]